Wednesday, August 23, 2006

Die Träume des Jonas K. (Teil 2)

 Sie gingen weiter, es war inzwischen stockdunkel geworden. Die Fenster der Häuser waren hell erleuchtet und strahlten eine unwiderstehliche Anziehungskraft in dieser Finsternis aus. Jonas verrenkte sich den Hals, wollte zu diesen Fenstern, wie die Motte zum Licht. Wollte hineinglotzen in diese Fenster. Sich die Nase platt drücken, an der Scheibe kratzen.
„Was ist los mit dir?“ Der Teufel schaute Jonas irritiert an.
„Ich will da rein.“
„Wo rein?“
„Da rein, zu den Menschen.“
„So?“ Der Teufel sah durch die Scheibe.
„Ich sehe da nur ein alterndes Lehrerehepaar beim Abendessen. Was willst du da drin?“
„Das sieht gemütlich aus. Ich will da rein.“
„Wilde Orgien könntest du in deinen Träumen haben und du willst dir Gespräche über die letzte Zeugniskonferenz anhören?“
Jonas stand inzwischen am Fenster, legte seine Hände auf die Scheibe.
„Die haben Bilder aus der Toscana an der Wand. Das sieht nett aus, lass uns reingehen.“
Der Teufel sah sich zwei-, dreimal um, verdrehte dann die Augen.
„Also gut, also gut, gehen wir.“
Wenig später saßen sie am Tisch, gedeckt war nicht für den Teufel und Jonas, aber man hatte sie ja auch nicht erwartet. Insgesamt schien das Paar sie aber auch nicht zu bemerken. Jonas lauschte andächtig deren Konversation, welche sich auf das Austauschen alltäglicher Erlebnisse beschränkte. Der Teusinger hatte wieder den Unterricht so lange gestört bis er zum Direktor musste (die Beiden waren tatsächlich Lehrer), Beikirchner tritt demnächst wieder im Senftöpfchen auf, Mutters Hüfte macht Fortschritte, sie lässt schön grüssen (die Mutter).
„Wahnsinnig spannend, Jonas. Wenn das deine Träume sind, dann will ich nicht dein Leben sehen.“
„Psst, still. Das ist das, was ich denn ganzen Tag vermisse.“
„Berichte über Mutters Hüfte?“
„Geborgenheit. Sicherheit. Gewissheit. Gewissheit das nicht nächstes Jahr alles komplett anders ist.“
„Langweilige Tristesse.“
„Ist Einsamkeit nicht weitaus langweiliger? Langeweile ist ein Preis den ich nur allzu gerne zahlen würde.“
Der Teufel stand auf, sah sich um, inspizierte das Bücherregal.
„Ich hoffe du musst morgen früh raus, Jonas. Rilke… oh Mann was für ein Krampf!“
„Das ist nicht gerade höflich.“
„Das wird auch nicht unbedingt von mir erwartet. Genieße du weiter deine Sozialstudien, ich versuche diesen Traum irgendwie rumzukriegen.“
Jonas lauschte, beobachtete, verschmolz mit seiner Umgebung.
„Wenn ich die Augen schließe, vielleicht kann ich mich auflösen, eins werden mit diesen Leuten.“
„Bist du nicht katholisch?“
„Ja.“
„Falsche Religion. Du meinst wohl das Nirwana. Das haben die Buddhisten schon für sich reserviert.“
„Was soll das heißen?“
„Gestaltlosigkeit. Die Auflösung des Seins.“
Der Teufel trat zum Bücherregal und nahm ein Lehrbuch über fernöstliche Religionen heraus.
„Das darf natürlich in keinem Pädagogenhaushalt fehlen. Während des Studiums haben sie noch die Besitzlosigkeit propagiert, nach dem Schock des Berufseinstiegs die Gestaltlosigkeit. Das Leben wird irgendwann so unerträglich das man den Fernseher am liebsten abstellen möchte. Und dann merkt man das man keine Fernsteuerung in der Hand hält. Aber was steht denn hier, mal sehen….Nirwana ist die Bezeichnung für das buddhistische Heilsziel, den Austritt aus Samsara, dem Kreislauf des Leidens, durch Erleuchtung. Nirvana ist für Buddhisten, die von der Wiedergeburt ausgehen, auch die Befreiung von der selben. Das Wort bedeutet »Erlöschen« (wörtlich "Ver-wehen") und meint das Auslöschen aller an die Vorstellung vom Dasein bindenden Faktoren (Ich-Sucht, Gier, Anhaften usw.) - Verwandte Begriffe im Buddhismus sind "Leerheit" (Skrt: Shunyata) sowie "Soheit" (Tathata).“
„Ich bin mir noch nicht einmal sicher wie mein Selbst aussehen soll. Was soll ich da auflösen. Das ist mir alles zu hoch.“
„Genau das meine ich. Man bleibt bei dem was man hat.“
„Wie sähe meine Alternative aus?“
„Römisch- Katholisch, mal sehen, ach ja, Leben nach dem Tod, in den Himmel kommen und was da alles dazugehört.“
„Wie soll das aussehen?“
Der Teufel grinste: „Das werde ich dir gerade auf die Nase binden. Netter Versuch.“
„Es wird doch irgendeinen Ausweg geben.“
Der Teufel stellte das Buch zurück ins Regal.
„Hmmm, jetzt wird es doch noch interessant. Da hat sich das lange Aufbleiben doch noch gelohnt.“
Er ging auf und ab, kratzte sich am Kinn, grinste genüsslich und sah Jonas dann mit funkelnden Augen an.
„Wenn du mir Deine Seele verkaufst löschen wir die ganze Festplatte und spielen ein komplett neues Programm auf. Die ganzen Erinnerungen, die dich weich gemacht haben, kommen weg, gleichzeitig bekommst du Erfahrungen die dich vor Selbstbewusstsein nur so stinken lassen.“
„Das hatten wir bis jetzt noch im jeden Traum. Und ich hab dir jedes Mal gesagt das das nicht läuft. Was willst du überhaupt mit der ollen Seele?“
„Ist ja wohl meine Sache. Wenn du es wissen willst, lies halt ein Buch. Allgemeinbildung geht in der heutigen Zeit wirklich immer mehr verloren.“
„Jedenfalls läuft das nicht.“
„Oh Mann. Es ist vier Uhr morgens. Ich verschwende nur meine Zeit mit dir. Ich weiß wirklich nicht warum ich meine Nächte mit dir verplempere.“
„Ich hab dich nicht hergebeten. Mir wären die erotischen Träume mit meiner Englischlehrerin aus der Mittelstufe auch lieber.“
Der Teufel hielt inne. Irgendwas schien in ihm vorzugehen. Er schien nervös zu werden, was Jonas aber kaum glauben konnte. Dieser Kerl doch nicht.
„Jonas, wie wäre es mit einem kleinen Spiel? Wir wollen noch ein bisschen Spaß haben, dieser ganze Ausflug war doch ein bisschen zäh.“
„Ein Spiel, hmm, ok, warum nicht. An was denkst du?“
„Alle Religionen dieser Welt glauben an so was wie eine Wiedergeburt. Das kann im Diesseits oder Jenseits sein. Im Grunde kann uns deine Religion in diesem Moment also ziemlich egal sein.“
„Können wir das Thema Religion jetzt mal verlassen. Ich habe den Eindruck das wir beide von dem Thema keine Ahnung haben.“
„Na, na. Nur ein Spiel. Den Gefallen kannst du mir nicht ausschlagen.“
„Also gut, was spielen wir?“
„Spiel ist vielleicht der falsche Ausdruck. Experiment trifft es besser.“
„Experiment?“
„Nichts gefährliches. Alles ganz unschuldig. Wir stellen uns die Frage was wohl in einem neuen Leben passieren mag. Wir spekulieren was wohl besser werden könnte. Wir wünschen uns das was wir von unseren jetzigen Leben erwarten, uns aber nicht eingestehen wollen. Wir wärs?“
„Spielst du mit.“
Der Teufel winkte ab: „Ich, nein, ich bin ganz zufrieden. Abwechslungsreicher Job, viel Kontakt zu Menschen, nur die Arbeitszeiten könnten besser sein, aber man kann nicht alles haben.“
„Ich war eigentlich auch ganz zufrieden mit meinen Leben. Es war nicht immer alles schlecht.“
„Was ist passiert?“
„Keine Ahnung. Das Erwachsenwerden war irgendwie ein Schock. Aber beim Gedanken an die Kindheit wird mir immer warm im Bauch. Ich brauche kein neues Leben, ich will nur mein altes zurück.“
„Also schön. Dann halt so.“
„Was muss ich tun.“
„Schließe die Augen und versuche zurückzugehen.“
„Und dann?“
„Keine Ahnung. Das ist ja gerade der Reiz.“
„Also Augen zu?“
„Ja.“
„Und du?“
„Ich komm dann später dazu.“
„Versprochen?“
„Ja, ja, los jetzt.“

Jonas schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Also zurück in die Kindheit. Was war besonders schön? Was war sorglos, sicher und dennoch spannend. Jonas kniff die Augenlider zusammen. Ihn umgab jetzt absolute Dunkelheit. Er schritt durch die Dunkelheit und nach einer Weile sah er ein kleines Licht, das immer größer wurde. Jonas stockte kurz; man hörte ja immer von diesen Geschichten von diesen Sonderlingen, die ein Nahtodeserlebnis hatten und danach ihr Leben danach komplett umgeschmissen hatten.
„Na ja, wieso eigentlich nicht?“ sagte Jonas und ging weiter.
Als Jonas das Licht erreichte war er tatsächlich an einem Ort der Ihm in angenehmer Erinnerung geblieben war: Der Sommer 1987.
Keine Ahnung warum 1987 was Besonderes war. Es gab keine Fußball Weltmeisterschaft, keine olympischen Spiele, keine Wahlen und keine großen Katastrophen, zumindest keine an die sich Jonas erinnern konnte. Ein ereignisloses Jahr. Aber vielleicht deswegen so schön.
Ein Freibad. Mitten im August. Mindestens 30 Grad. Jonas hatte sich nicht eingekremt, er würde abends einen furchtbaren Sonnenbrand haben. Aber das war egal. Es war so vieles egal und das war wunderbar. Jonas und seine Freunde lagen auf der Wiese des Freibades und tauschten Fußballbilder. Ein Matthäus brachte schon viel, der war mindestens 3 Jacobs und 2 Nachtweihs wert. Jonas feilschte um Asegir Sigurvinson, der fehlte noch beim VfB Stuttgart.
„Ich hab hier Zewe, Alievi und Raducanu.“
„Der Zewe ist in jeder Tüte drin, den kannst du behalten.“
„Dann halt nur die zwei.“
„Nix, lass was sehen.“
Jonas blätterte nervös in seinen Doppelten. Er musste den haben, den einen nur, dann war Stuttgart komplett.
„OK, das Wappen von Mannheim.“
„Die Wappen hab ich alle.“
Verdammt. Die Wappen waren seine Trümpfe, die klebten sich viele auch aufs Matheheft. Sein Gegenüber, Zöck genannt, war jedoch knallharter Geschäftsmann.
„Ok, Hässler.“
„Kenn ich nicht, gibt’s auch gar nicht. Hey, verarsch mich nicht.“
„Natürlich gibt’s den.“
„Quatsch!“
„Doch, bei Köln.“
Zöck blätterte sein Heft durch: „Hmm, Tatsache. Mittelfeld. Der ist neu, son Bankdrücker. OK, Sigurvinson, hier.“
Glück gehabt, der VFB war jetzt komplett.
Jetzt kam das Beste, das Einkleben. Das Klebebild musste genau in das dafür vorgesehene Feld eingeklebt werden, die Größe des Feldes entsprach genau der des Bildes. Kleinen Kindern was das egal, die klebten ihre Bilder auch quer in das Feld, der echte Profi jedoch wollte Perfektion. Sobald das Bild auch nur eine Winzigkeit aus dem Feld herauslugte war der Tauscherfolg für die Katz, da war das ganze Heft verschandelte.
Jonas legte seine Zunge auf die Oberlippe und passte das Bild an. Die unteren Ecken des Bildes in die unteren Ecken des Feldes. Und jetzt langsam, ganz langsam. Das Bild stramm halten, damit keine Falte entsteht, das wäre das schlimmste. Und jetzt langsam, es war fast geschafft. Jonas rollte die oberen Ecke aus, sie passten genau in die Ecken des Feldes. Perfekt. Ein perfektes Einkleben, ein perfekter Tag.
Jonas schob das Heft zurück in die Klarsichtfolie und steckte es in seinen Rucksack.
„Und jetzt?“ Zöck war noch sichtlich angefressen, dass er Thomas Hässler nicht kannte.
„Keine Ahnung. Frisbee?“
„Zu heiß.“
„Dann wieder zum Becken.“
„OK!“
Man machte sich zurück zum Schwimmbecken, aber wenn man in der vierten Klasse war und dabei auch noch männlichen Geschlechts, da ging man nicht einfach schwimmen, sondern man sprang. Vom Einer. Immer und immer wieder.
Jonas und seine Freunde probierten sich in den waghalsigsten Kunststücken, Salto, Scherensprung, Arschbombe (besonders diejenigen die in diesem zarten Alter schon mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatten).
Jonas war nicht wirklich der athletischste Typ, auch nicht zu dieser Zeit. Das war aber auch egal. Abspringen, komische Verrenkungen machen, eintauchen, wieder raus aus dem Becken, alles von vorne, mehr brauchte es nicht. Ein Köpper wäre unmöglich, aber das konnte Jonas bis dahin erfolgreich verbergen. Stattdessen merkwürdige Interpretationen eines Klappmessers, halbe Saltos, gehockte Sprünge auf den Rücken gelandet. Aber das war alles in Ordnung. Es war die Zeit vor dem wahren Leben.
Nach etwa zehn Sprüngen setzte sich Jonas auf den Beckenrand und beobachtete die Anderen. Desto mehr das Wasser spritzte, desto besser, desto größer das Gejohle. Die Sonne schien, Jonas kniff die Augen zu, genoss den Geruch des Chlors, das Wasser, das ihm seine Kameraden mit ihren Sprüngen ins Gesicht spritzen. Andächtig betrachtete er seine verschrumpelten Finger, fragte sich wie dieses Phänomen zu erklären sei, fand keine Antwort, was ihn aber auch nicht wirklich störte. Es war einfach nicht wichtig.
„Wie siehts aus mit der Wette?“
Zöck saß auf einmal neben Jonas und grinste Ihn hämisch an.
„Wette?“
„Du weißt genau was ich meine? Gestern? Sportunterricht?“
Oh nein. Verdammt. Einmal ein großes Maul riskiert und jetzt mitten im Schlamassel. Jonas hatte geprahlt. Er hatte behauptet, dass er es tun würde. Ausgerechnet er. Der nie zum Helden berufen war. Eine Tat, die ein 11 Jähriger nie wagen würde. Noch nicht einmal Zöck. Noch nicht einmal einer von denen die begnadete Jugendfußballer waren und deswegen so was wie die Alphatiere. Jonas hatte sich als Hasardeur aufgeführt, indem er sagte er würde es tun.
Den Sprung vom Fünfer.
Dieser stand da wie ein Monolith. Umringt von den kleineren Sprungbrettern stand er da, stolz, unantastbar. Das lag daran das sich zum einen niemand traute ihn zu besteigen und schon gar nicht herunter zu springen. Auf der anderen Seite war er eigentlich auch immer gesperrt, deswegen wog sich Jonas auch in Sicherheit als er zu seiner Prahlerei ansetzte.
Irgendein offensichtlich dem Wahnsinn verfallene Bademeister hatte die Sperre aufgehoben, nun starrten die versammelten Halbwüchsigen den Monolithen voll Angst und Neugier an. Keiner traute sich, trotzdem wollte man sehen was passiert wenn sich tatsächlich jemand diesen Berg herunterstürzt. Jonas sah sich um; sein gesamter Freundeskreis hatte sich inzwischen um ihn gescharrt und grinste Ihn an.
„Na, wie siehts aus?“
Das Grinsen der Freunde verzog sich zu Furcht einflössenden Fratzen. Jonas hatte nun die Wahl: Körperliche Unversehrtheit oder ein makelloser Ruf. Er wählte natürlich das Letztere, körperliche Schäden könnten ja vielleicht nach einer gewissen Zeit wieder behoben werden.
Er ging zum Sprungturm, beobachtet von der Versammlung der Vorpubertären. In ihm hämmerte die Frage: „Bist du verrückt, tust du das hier gerade wirklich?“
Keine guten Ratschläge des Sommerferienprogramms konnten hier helfen, kein Glauben in die eigenen Fähigkeiten, kein Ausbrechen aus den Erwartungen der Anderen. Jonas hatte einfach nur Angst. Und nur die größere Angst des sozialen Niedergangs ließ ihn die nur unwesentlich geringere Angst vor diesem Ungetüm, das im guten Glauben an eine sportliche Jugend errichtet und jetzt zur Marterung dieser beitrug, ertragen.
Die erste Treppe. Das ging noch, alles klar, die Gaffer positionierten sich um den Turm
Zweite Treppe. Die Höhenangst setzte langsam ein. Die Schritte wurden langsamer. Die Gaffer waren natürlich noch immer da, er musste also weiter.
Dritte Treppe. Jonas wurde langsam bewusst das er etwas total bescheuertes tat. Weil gefährlich. Eigentlich unnötig gefährlich. Aber das war schließlich Auslegungssache. Die Höhenangst wurde schlimmer. Einfach nach oben schauen, einen fixen Punkt suchen.
Vierte und letzte Treppe. Parallelwelt. Irgendwie war es hier oben kälter. Höhenangst auf Stufe 10. Gehen ging nicht mehr, also Kriechen. „Die Anderen lachen gerade, die lachen alle!“ Er konnte sie nicht hören, aber er wusste, dass sie da waren und das er sie köstlich unterhielt. Wenn er jetzt umgekehrt wäre, wäre er tot, für immer. Also weiter. Noch 4 Stufen, 3, 2, 1, auf dem Gipfel. Eigentlich schon ein kleiner Erfolg, aber das Schlimmste kommt erst noch. Er lag auf der Sprungfläche. In luftiger Höhe und doch am Boden.
Er klebte am Teer. Wie sollte er jetzt hoch kommen? Oder zum Absprung kriechen? Nein, das würde der ganzen Aktion jegliches heldenhafte Potential rauben. Jonas tastete sich zur Absperrung und hangelte sich hoch. Er konnte jetzt seine Kameraden hören wie sie johlten und lachten. Jonas sah hinunter, was ein Fehler war, denn die Tiefe schien ihn anzuziehen. Er zuckte zusammen, klammerte sich noch fester an die Metallabsperrung. Nichts wie runter hier. Schritt für Schritt näher auf den Absprung zu. Jeder Schritt minutenlang. Die letzten Schritte ohne Absperrung. Jonas ging wie auf Eiern.
OK, das wars dann wohl. Jonas stand am Abgrund. Bloß nicht runter sehen. Jonas war jetzt der einsamste Mensch der Welt. Jetzt herunter springen mit Köpper? Auf ganzer Linie gewinnen? Kein Gedanke daran. Irgendwie die Sache zu Ende bringen.
„Im Sprung ist das Schlimmste vorbei“, dachte sich Jonas. Also auf Drei.
Und Jonas sprang. Und flog. Und fiel ins scheinbar bodenlose.
Wasser kann hart wie Beton sein wenn man aus großer Höhe darauf landet. Besonders wenn man mit bestimmten Körperteilen darauf landet. Und genau mit diesen bestimmten Körperteilen landete Jonas auf dem Wasser. Jonas tauchte nach einer halben Ewigkeit mit einem lauten Schrei auf. Ging gelegentlich unter. Wusste nicht ob er gegen das Ertrinken oder diese wahnsinnigen Schmerzen, die sein Unterleib ausstrahlte ankämpfen sollte. Nach einer Weile zerrten stark behaarte Männerarme an ihm, die ihn schließlich aus dem Wasser zogen. Schreien und Kreischen begleiteten ihn während zwei Bademeister ihn in die DLRG-Station trugen. Jonas schlug die Augen auf und fand sich auf dem PVC-Boden wieder. Immer noch wahnsinnige Schmerzen.
„Welcher Tag ist heute?“, schrie ihn einer der Bademeister an.
Jonas übergab sich zur Antwort.
„Hast du Schmerzen?“
Jonas nickte.
„Wo?“
Jonas deutete auf seine Badehose.
Die Bademeister schauten sich an.
„Könnte was schlimmeres sein.“
„Los, Hose runter.“
Und so geschah es.
„Kann es was peinlicheres geben als das?“, fragte sich Jonas während die Bademeister seine Testikel auf gefährliche Verletzungen überprüften.
Ja, konnte es.
„Jonas hat Haare am Sack!“
Seine Freunde hatten ihn zum Bademeisterraum begeleitet, das fiel im erst jetzt auf. Hämisches Lachen ertönte, das immer hysterischer wurde. Es sollte ein Geheimnis bleiben, Jonas war etwas frühreif und wollte sich die Illusion bewahren noch ein Kind zu sein. Das hatte sich in diesem Moment wohl erledigt.
„Das Gute am menschlichen Bewusstsein ist, das es die schlechten Dinge vergisst und die guten Dinge zu bewahren versucht“, sagte Jonas zu sich während er zur Decke blickte.
Seine Freunde verließen kreischend den Raum, die Bademeister waren auch auf einmal weg. Ein kalter Wind wehte durch den Raum, vertrocknete Blätter flogen Jonas ins Gesicht. Da lag er nun, allein, frierend, mit herunter gelassenen Hosen.
„Ach, du Scheisse!“
Jonas schreckte hoch. In der Türe stand der Teufel, in Speedo Hose, Adiletten, Ray Ban, Goldkettchen.
„Sehr stylisch!“, dachte sich Jonas.
Der Teufel starrte ungläubig, fast irritiert auf Jonas leicht behaarte Geschlechtsorgane.
Jonas zog die Hose hoch, setzte sich auf und stützte sein Kinn auf seine Knie. Was für eine Enttäuschung!
„Na ja, nicht wirklich was wir uns erhofft haben“ sagte der Teufel und kratzte sich am Kinn. „Aber der Versuch wars wert.“

Jonas schreckte Schweiß gebadet hoch. Nur ein Traum, nur ein Traum. Er blickte zur Uhr. 5.30. In einer Stunde musste er aufstehen. Weiterschlafen hatte sich jetzt irgendwie erledigt.
„Also wirklich!“



Thursday, June 29, 2006

Die Träume des Jonas K.

Jonas blieb noch eine ganze Weile in Ilkas Wohnung. Sie hatte eine Menge zu erzählen und da Jonas die Zuhörerrolle ohnehin vorzog wurde es beinahe Mitternacht. Um beider Arbeitskraft noch zu gewährleisten kehrte Jonas in seine Wohnung zurück um wie die Statue eines geschassten Diktators ins Bett zu fallen.

Nicht mehr nachdenken. Bloß nicht mehr nachdenken.

Nicht mehr nachdenken über Yvonne. Nicht mehr nachdenken über diese Karikatur eines Jobs. Nicht mehr nachdenken über das Leben in der prekären Generation . In der nichts sicher ist. Außer der Tatsache, dass die Dinge, die gestern noch sicher waren, heute eine nostalgische Erinnerung geworden sind.

„ ….der Erfolg des Programms zeigt sich dadurch das alle Teilnehmer der letzten Jahre eine feste Anstellung gefunden haben.“

So oder so ähnlich las sich die Jobanzeige die er vor einem Jahr im Internet fand. Ein Trainee-Program bei einem der größten Firmen der Welt mit garantierter Jobgarantie, was wollte man mehr in diesen Zeiten. Man zog einfach die zwei Jahre durch, hatte danach einen sicheren und gut bezahlten Job in denen man sich nach kurzer Arbeitszeit auf einen ausgedehnten Feierabend freuen konnte. Man verbrachte seine Zeit mit Rosen züchten und Bierdeckel sammeln und sah zuversichtlich der Rente entgegen.

Und kaum hatte man den Vertrag unterzeichnet hörte man erste Gerüchte über die Einstellung des Programms. Offizielle Stimmen behaupteten prompt das Gegenteil, aber konnte man denen trauen? Konnte man überhaupt irgendjemanden in diesem Laden trauen? Gute Leute kann immer gebrauchen, aber werden die dann auch eingestellt?

„Verdammt!“, dachte Jonas. „Ich denke wieder nach.“

Die Herkunft aus der Mittelschicht brachte meist eine gewisse Bildung und einen solide finanzielle Basis mit sich, leider aber auch die permanente Angst vorm sozialen Abstieg. Jonas ließ dies in letzter Zeit schlecht einschlafen. Was an sich schade war, denn er hatte zumeist wunderbar realistische Träume. Gerne dachte er zum Beispiel an einen Traum zurück den er in der 4.Klasse hatte:

Er stand auf dem Schulhof einem großen Spiegel gegenüber, die anderen Kinder standen um ihn herum und starrten den Spiegel ängstlich an. Jonas nahm Anlauf und die Kinder sprangen beiseite, schrieen in Panik. Jonas sprang durch den Spiegel und als er auf der anderen Seite ankam war er genau das Gegenteil von dem was er vorher war: Beliebt, geachtet und im Tennisverein. Der Traum beflügelte Ihn dermaßen das er am nächsten Tag dem Klassenrowdie einen bösen Kinnhaken versetzte. Dies brachte Ihm den Posten des stellvertretenden Klassensprechers ein. Leider war seine Reputation spätestens nach den nächsten Bundesjugendspielen verflogen. Die Grundschule bestrafte Abweichungen vom archaischen Männerbild unnachgiebig und grausam. King for a day- Fool for a lifetime.

Auch an diesem Abend fand Jonas dann doch in den Schlaf. Unglücklicherweise waren seine Träume in letzter Zeit nicht nur besonders realistisch sondern auch sehr beängstigend. So fand er sich zum Beispiel in einem Ego Shooter wider- ohne Munition, ohne Superwaffe und ohne Kenntnis eines Cheats. So wurde er die halbe Nacht von Monstern und Mutanten durch Labyrinthe gejagt, noch tagsüber fuhr er verschreckt zusammen wenn sich etwas massiger aussehende Menschen ihm näherten.

Ein Traum kehrte allerdings in letzter Zeit immer und immer wieder zurück: Er ging auf einem Spaziergang mit dem Teufel. Der Teufel sah so aus wie er ihn sich immer vorgestellt hatte. Armani Anzug, maßgeschneiderte italienische Schuhe, teure Schweizer Uhr am Handgelenk. Ansonsten Standard: Hörner, gelbe Augen, unvorteilhaft starke Körperbehaarung.

Sie streiften durch die Wohnviertel des Mittelstandes, in der Dämmerung, durch menschenleere Strassen. Der Teufel war nett, aber bestimmt, der väterliche Freund den Jonas nie gehabt hatte. Er gab Ihm Tips, alle etwas niederträchtig, aber durchaus nützlich, wie zum Beispiel: „Spar dir alle e-mails, besonders die an den Chef, die du tagsüber schreiben willst, für Abends auf. Das erweckt den Eindruck von überdurchschnittlichen Einsatz, ein Workaholic, der nur die Firma zum Lebensinhalt hat. Der alles gibt bis die Aterien dicht machen.“

Jonas winkte immer dankend ab. Das war nicht er, das war nicht richtig, man muß auch noch morgens in den Spiegel schauen können. Trotzdem erzählte er den Teufel jedes Mal seine Sorgen. Er war Ihm aus Mangel an Alternativen ein guter Freund geworden. Heute gestand er Ihm: „Ich fühle mich einsam. Meine Freundin hat sich von mir getrennt. Glaube ich zumindest. Und das schlimme ist, es macht nicht wirklich einen Unterschied zu vorher. Sie hat mich gut behandelt wenn ich sie schlecht behandelt habe. Und wenn ich sie gebraucht habe ist sie fortgelaufen. Ich sage das es mir schlecht geht und sie versteckt sich. Als ob sie Angst vor mir hätte, als wäre ich etwas Unnatürliches.“

Der Teufel pfiff durch die Zähne: „ Ja, so sind die Frauen. Fühlen sich von Stärke und Unabhängigkeit angezogen. Die sich natürlich in einer gewissen Arroganz äußert. Aber man kann ihnen keinen Vorwurf machen. That’s evolution baby. Man brauchte halt früher den Typ Mann der mit stoischer Miene die Mammutherde des Hauses verwiesen hat. Da konnte man nicht das Weichei gebrauchen, der im hinteren Teil der Höhle sein inneres Kind sucht. Seitdem hat sich nicht viel geändert. Mammutherden gibt es nicht mehr, dafür aber tyrannische Abteilungsleiter, ausländische Investorengruppen und jede Menge unbezahlte Überstunden. Der Genpool muss sauber gehalten werden, aber man kann tricksen. Man kann so tun als ob. Die Frauen merken das nicht. Das kommt im Endeffekt aufs Gleiche raus.“

„Am Ende kommt doch alles raus. Das funktioniert nicht. Irgendwie muss die negative Energie doch raus.“

„Tss, negative Energie, New Age Kacke. Früher, da hatte man keine negative Energie, da hatte man Scheiss-Frust und der musste raus. Da hat dem Nächsten in die Fresse gehauen, alles was einem in die Quere kam.“

„Das ist wohl kaum noch zeitgemäß.“

„Wohl wahr. Aber warum springen Leute mit Fallschirmen von Wolkenkratzern? Warum schlagen Leute mit bloßen Händen Bretter durch? Warum klettern Leute ohne Sicherung 200 Meter hohe Steilwände hoch, wohl wissend das sie ein einfacher Niesser umbringen könnte. Frustbewältigung, alles Frustbewältigung. Und was spricht dagegen sich zünftig zu besaufen. Das ist einfacher, billiger und auf kurze Distanz ungefährlicher.“

„Vielleicht bin ich einfach zu weich auf die Welt gekommen.“

„Vielleicht Jonas, vielleicht.“

Thursday, June 01, 2006

There's no place like home (Teil 2)

Keine Zeit Trübsal zu blasen, es klingelte an der Tür. Merkwürdig, er erwartete keinen Besuch. Die Nachbarn kamen eigentlich auch nicht vorbei, man schätzte hier die Anonymität, vorzugsweise schickte man die Polizei oder den Hausmeister um Botschaften zu übermitteln. Jonas warf einen Blick durch den Türspion. Aha, schau an. Ilka Zorn. Ihrerseits Schwedin, arbeitete wie Jonas bei BOC, wenn auch bei weitaus besseren Salär. Was könnte die wollen? Jedenfalls war sie nicht gekommen um eine Tasse Zucker oder einen Liter Milch zuborgen, sie war nicht eine der Frauen die zu essen pflegten, zumindest nicht regelmäßig. Sie sah aus, na ja, wie halt so eine Skandinaviern auszusehen hatte: Groß, sehr schlank, lange blonde Haare, blauäugig und sehr große Brüste in Relation zu ihrer Statur. Die Oberweite schien aber durch den Türspion noch weitaus prächtiger. Ilka war die einzige seiner Nachbarn gewesen, die ihn damals zu einem Kaffee in ihre Wohnung eingeladen hatte, damals, als er er mit seinen Einkäufen die Treppe herauffiel und mit seinem Gesicht auf Ihrer Fussmatte bremste. Ein wahrer nordischer Engel. Jonas öffnete.

"Guten Tag, störe ich?"

"Nicht doch!"

"Haben Sie mal einen Augenblick Zeit, ich hab da ein Problem, es ist mir ein bißchen peinlich."

"Sicher!"

Jonas folgte ihr zu ihrer Wohnung, in seinem Kopf allerlei Gedanken pornograpfischen Ursprungs. Man kannte das ja, Schwedin, alleine in ihrer Wohnung, hilfsbedürftig, sucht sich den stärksten Deckhengst im Haus. Mit einem breiten Grinsen stieg er ihr nach.

"Haben Sie sowas eigentlich schon mal gemacht."

"Ähm, ja klar, oft sogar" log Jonas und errötete.

"Vielen ist es beim ersten Mal unangenehm. Da bin ich ja froh, das sie ein Mann mit Erfahrung sind. "

"Bin ich!"

"So was kann nicht jeder."

"Wem sagen sie das."

"Sie ekeln sich nicht."

"Ach was."

"Na ja, dann wissen sie ja, wie man damit umgeht."

Jonas schreckte angewiedert zurück. Sie hielt ein absonderliches Instrument in der Hand. Was sollte er damit bloß anstellen?

"Also, ich verwende Klupmstreu. Wenn sie das Katzenklo einmal am Tag säubern könnten, da wäre ich Ihnen sehr dankbar, jeder zweite würde vielleicht auch reichen. Den Drecke tue ich immer in diesen Eimer hier. Ich tue einen neuen Müllsack rein, für vier Tage müßte das reichen. Ich bin ihnen wirklich dankbar, ich hätte sonst nicht gewußt was ich machen sollte. Mögen Sie Katzen?"

"Ich liebe Katzen!"

Die Katze war ziemlich fett und sah verschlagen aus. Jonas hasste Katzen. Ganz besonders diese langhaarigen, verzüchteten Biester mit dem flachen Gesicht. Während seiner Studentenzeit war er von einem Kater namens Tyson angefallen worden, eine Attacke die Ihm seinen Unterarm in Fransen hinterliess. Dabei hatte Jonas lediglich versucht ihn auf einer Studentenfete vom Sofa zu entfernen, er fand es lächerlich das die gesamte Fläche des Raumes von stehenden Gästen besetzt war, während diese üble Laune der Natur das halbe Sofa besetzte. So versuchte er den Kater am Nacken hochzuheben und vorsichtig auf den Boden zu setzen. Er hatte gedacht das dies der probate Weg wär eine Katze von A nach B zu befördern, leider dachte Tyson. Ergebnis war ein Rendezvou mit einem unausgeschlafenen und übelgelaunten persischen Assistenzarzt um 3 Uhr nachts und die Gewissheit, den anwesenden Partygästen noch Jahre später als dankbare Anekdote auf späteren Geschäftsessen zu dienen. Sein Schreien und Winseln war jedenfalls durch das gesamte Studentenviertel zu hören gewesen.

Später hatte ihm eine erklärte Katzenliebhaberin erklärt, das diese Art von Katze gar nicht in der Lage gewesen sein könnte ihm so schwere Verletzungen zuzufügen. Jonas Beschreibung nach mußte es sich um einen Perser (nicht der Assistenzarzt) gehandelt haben. Diese Rasse ist so überzüchtet, dass sie durch Ihre extrem flachen Schnauzen eben auch einen extrem deformierten Kiefer hatten. Daduch ist es den armen Viechern noch nicht einmal möglich Trockenfutter zu kauen. So war die Nahrungsaufnahme nur mit Feuchtfutter möglich, das die Katze dann an ihrem Gaumen mit der Znge zerdrückt. Wenn eine solche Katze also an einem Krümel fast ersticken würde, wie sollte Sie dann in der Lage sein einen Unterarm in einen Kepabspiess umzugestalten. Jonas jedenfalls wußte was er in der besagten Nahct gesehen und erlitten hatte. Vielleicht hatte es sich auch nur um eine Fehlzüchtung gehandelt, mit ausgeprägten Kiefer.

Ilka bat zum Tee auf die Nappa-Sitzgruppe. Jonas Projekt war also das Katzenklo für die nächste Woche zu säubern. Er hätte aber auch nicht ernsthaft erwartet, dass sich seine brachial-erotischen Phantasien erfüllt hätten. Ilka arbeitete wie er bei BOC, allerdings nicht im Keller des Einkaufs sondern im Event-Management. Sie hatte einen absoluten Traumjob: Sie organisierte die Incentive- Aktionen für die BOC-Händler. Diese ganzen Aktionen waren ersonnen worden um die Händler zu noch mehr Verkäufen zu animieren. Damit der Kunde nicht mit gezogener Waffe zum Autokauf bewegt wurde, was zu Anfang Gerüchten nach vorgekommen sein soll, floss auch die Qualität des Beratungsgesprächs in die Wertung ein. Teilnehmer dieses Programms waren demzufolge in der Überzahl Händler aus der bayrischen Provinz, die ganze Flotten an Verwandte, Freunde, Freunde von Verwandten und Freunden von Freunden verkauften. Dieses Hinterwäldlerklientel wurde dann rund um den Erdball kutschiert, das Eventbüro war tapeziert mit Bildern von der Belegschaft Autohaus Huber vor dem Zuckerhut, den Gebrüdern Steiner vor den Pyramiden oder dem Ehepaar Brunner im Restaurant des Eifelturms. Unterbringung und Programm war bei jedem Event vom feinsten, legendär war der 50m lange Autokorso an der Cote d Azur gewesen, die Geschäftsführer des Autohauses Hinterseer zu Marktschwaben vorneweg.

Ilkas Aufgabe war es nun diese Klassenfahrten zu organisieren. Hotels mussten gesucht, Fluege gebucht und besonders exklusive Attraktionen fuer die hohen Gaeste organisiert werden. Und das war gar nicht so einfach, denn das Publikum war durch das Incentive-Abonnement verwöhnt. Es waere wahrscheinlich einfacher einen Staatsbesuch auf die Beine zu stellen. Als sich Jonas die mit sueddeutschem Dialekt maulende Haendlermeute vorstellte, kamen ihm erste Zweifel am Traumjob. Aber Ilka war jener dieser Menschen die wahrscheinlich genetisch gar nicht dazu in der Lage war unfreundlich oder zumindest genervt zu sein.

„Sie arbeiten im Einkauf, richtig?“

„Richtig, seit 6 Wochen.“

„Das ist bestimmt wahnsinnig interessant!“

Das muss die professionelle Freundlichkeit sein, dachte sich Jonas.

„Nicht wirklich, aber ich kaufe ja auch nichts ein.“

„So?“, stutzte Ilka und sah Jonas irritiert an.

Diese Direktheit war man im Eventmarketing anscheinend nicht gewohnt. Jonas merkte das er die Stimmung wieder auf serviceorientiertes mittleres Freundlichkeitsniveau rücken musste. Ilka war die einzige Person im Haus die überhaupt mit ihm sprach, das durfte er jetzt nicht versauen.

„Ja, also ich bin ja erst kurz dabei. Im Moment mache ich das Cost-Tracking. Für den neuen E4-Motor. Haben Sie vielleicht schon gehört, dieses neue Treibstoff sparende Modell. Der besteht zum größten Teil aus Aluminium, ist deswegen besonders leicht und…..“

O.k., vielleicht etwas zu detailiert, Jonas registrierte das Ilka abschaltete.

„Jedenfalls habe ich Zugriff zu allen Einkaufssystemen und prüfe selbstständig und proaktiv ob die Preise unserer Kalkulation mit denen in der Datenbank übereinstimmen. Wenn dies nicht der Fall ist flagge ich den Vorfall und verständige den zuständigen Programm-Buyer per e-mail.“

„Ja, das ist ja fabelhaft. Ich meine, da bekommen Sie doch sehr interessante Einblicke, Zugriff zu den Datenbanken hat schließlich nicht jeder. Klar am Anfang ist die Arbeit oft repetitiv, das war bei mir am Anfang auch so. Ich musste auf meiner ersten Stelle eine ganze Liste mit Händlern abtelefonieren um die Termine für die Service-Screenings zu vereinbaren. Da hab ich nach ner Woche gedacht ich werde wahnsinnig.“

Geil, dachte Jonas. Kontakt zu Menschen. Gespräche. Plausch mit Kollegen am Kaffeeautomaten. Aufmunternde Worte vom Chef am Abend. Oder halt ne Standpauke vom Chef am Abend, auch gut. Aber Wahnsinn.

„Und der Kontakt zu den Programm-Buyern, die haben doch Einblicke in sämtliche Bereiche des Einkaufs. Wenn Sie sich da profilieren können, das wäre schon was. Das könnte ein Sprungbrett für Sie werden.“

„Ja, ein Sprungbrett,“ wiederholte Jonas zombieartig.

Hoffentlich ist Wasser im Becken.

Thursday, May 18, 2006

There`s no place like home (erster Teil)

500 € kalt für 50qm waren in dieser Stadt wirklich nicht zu viel, da konnte man nicht meckern. Das Viertel, in dem Jonas wohnte, gehörte zu den besseren in der Stadt. Hier wohnten vor allem Paare ohne Trauschein und Kinder und noch mehr Singles. Arm war hier keiner, auch nicht Jonas, wenn er ehrlich war. Da jeder für seinen Wohlstand aber hart arbeiten musste, war das Viertel tags über meschenleer, auch am Wochenende, denn dann zog es die Einwohner zum Free Climbing oder Fallschirmspringen in die Provinz.

An den verschiedenen Gebäuden, in denen zwischen 3 und 10 Mietparteien wohnten, hatten sich wohl die verschiedensten Architekten versucht, anscheinend alle mit dem Ziel, etwas einzigartiges zu schaffen. Die Bemühtheit, mit dem dieses Unterfangen durchgeführt wurde, erzeugte jedoch eine unverkennbare Eintönigkeit, eine hochdesignte Tristesse. Plattenbau für Besserverdienende, dachte sich Jonas während er auf seine Unterkunft zusteuerte.

Er öffnete das Hochsicherheitsschloss seiner Wohnungstür. Die Menschenleere des Viertels zog Personen an, die die Umverteilung des Gesellschaftskapitals auf ihre Art und Weise lösen wollten. Die Zahl der Einbrüche in diesem Teil der Stadt war signifikant hoch, so sagte man, vor allem tags über und gelegentlich auch in der Nacht. So erhöhten die Einwohner ihren Sicherheitsetat um ihr sauer verdientes Hab und Gutzu schützen, beteten in der Nacht, dass die bösen Männer ihnen nicht ihr neues Notebook, den DVD-Player oder die Videospielkonsole wegnehmen würden, das die Dreifachschlösser und Alarmanlagen die bösen Geister abhalten würden und Firmen, die mit der Angst des Mittelstands ihr Geld verdienten, machten gute Umsätze.

Jonas verriegelte die Tür hinter sich und warf seinen Rucksack in die Ecke. Die Wohnung war größtenteils in weiss gehalten, weisser Fliesenboden in Diele, Küche und Bad, wie in einer Zahnarztpraxis oder einem Achtziger Jahr- Bistro. An der Wand zwei gerahmte Kunstdrucke, dieses Blumenbild von Van Gogh und das Bild von Michelangelo, wo Gott und Adam sich zum Shakehands treffen. Nicht originell, aber dekorativ. Jonas Freundin hatte die Bilder ausgesucht, von ihm aus hätte auch ein Kalender an Wand hängen können oder eine Fotomontage aus der Abizeit, das war ihm relativ gleich.

Er öffnete den Kühlschrank und nahm einen Schluck Milch, ging dann ins Wohnzimmer und liess sich in den Sessel fallen. Nachdem er eine Minute lang an absolut nichts gedacht hatte (was äußerst entspannend war) wandte er sich dem Anrufbeantworter zu. Zwei Nachrichten. Jonas überkam immer ein eisiger Schauer, wenn Nachrichten für ihn hinterlegt waren, keine Ahnung warum, er erwartete wohl immer schlechte Nachrichten. Eine Nachricht war o.k., das war dann wohl Yvonne, aber desto mehr Nachrichten, desto grösser der Horror. Er erinnerte sich daran, das er mal nach einem Wochenende, an dem er bei seiner Mutter weilte, 10 neue Nachrichten auf dem AB hatte. Er war damals einem Nervenzusammenbruch nahe. Es stellte sich heraus, dass lediglich ein besoffener Kumpel, der nicht mehr Herr seiner Sinne war, Jonas Telefonnummer mit der einer Verflossenen verwechselt hatte. Die Anrufe erfolgten alle Samstag nachts zwischen 1.30 und 4.15, anscheinend bis dem Anrufer eine gnädige Ohnmacht übermannte.

Jonas sagte sich, dass alles schon nicht so schlimm sein würde, bestimmt nur gute Nachrichten, und drückte die Play-Taste.

Erste Nachricht: Wie erwartet Yvonne.

"Hallo Jonas, ich bins. Wollte nur kurz Bescheid sagen, dass die noch kurzfristig einen Event angesetzt haben. Sone Podiumsdiskussion mit dem Winzerverband. Da könnt ich echt Punkte machen. Um 17.30 muss ich dann spätestens weg sein, wenn du also mit mir reden willst, ruf bis dahin an. Heut abend wirds zu stressig, bin gestern abend schon so spät ins Bett gekommen. Also bis dann."

Jonas schaute auf die Uhr. Kurz nach fünf, das würde mehr als reichen.

Zweiter Anruf: Toni

"Hallo Alter, ich bins. Wollt dich nur nochmal dran erinnern an Freitag. Passionsgeschichte im Pfarrzentrum St. Michael. Das wird riesig, der absolute Schocker. Arnes Freundin hat die Kostüme gemacht, ist ja eigentlich ne blöde Kuh,aber das muss man ihr lassen. Diese Flachpfeifen vom Pfarrgemeinderat denken wirklich wir machen da son scheiss Krippenspiel. Das wird der Event des Jahres. Ich hab sogar son Schreiberling vom Stadtanzeiger an der Hand, was sagst du dazu? Ey, wenn du das verpasst hau ich dir eine rein. Also, Freitag 20 Uhr, du weißt Bescheid."

Da konnte man wirklich nicht Nein sagen. Allein schon aufgrund der Nachdrücklichkeit der Einladung.

Jonas war ganz froh, das Toni nicht um Rückruf gebetten hatte. Der Mann war, wie vielleicht schon deutlich wurde, ein arg impulsiver Charakter. Seine emotionalen Ausbrüche waren für Jonas seit seinem Eintritt in die Firma nur noch schwer zu ertragen, so sehr hatte ihn sein Arbeitsalltag eingelullt.

Bliebe da noch die Dame seines Herzens. Jonas wählte Yvonnes Nummer:

"Hallo Jonas!"

"Hallo mein Schatz!"

"Na!"

"Na!?"

Schweigen.

"Alles klar?" fragte Jonas um der Stille entgegenzuwirken.

Das war der Startschuss für einen Yvonne-typischen Monolog:

"Mann, du kannst Dir gar nicht vorstellen was hier im Moment abgeht. Der Volker is einfach unglaublich. War gestern mit uns noch bis Elf an der Theke, und morgens schon wieder um sechs auf der Matte. Das issen Kerl. Unglaublich. Gleich hat der schon wieder ein Meeting, noch ganz kurzfristig angesetzt. Hab ich Dir ja schon erzählt. Wir kämpfen hier echt um jede Stimme. Der Volker meinte, wer ihn jetzt nicht wählt, ist selber schuld, ha, ha, ha."

Muss wohl Politikerhumor sein, dachte Jonas.

"Ich bin echt stehend k.o. Ist alles total crazy hier. Aber auch irgendwie total cool, ich lern total viele Leute kennen, is ja auch irgendwie wichtig, von wegen Networking und so. Der Volker meinte auch, jemanden wie mich, den kann man immer gebrauchen. Weil ich so eine sympatische Ausstrahlung habe, so gut mit Leuten umgehen kann. Da bin ich echt rot geworden."

Jonas Eifersucht hielt sich in Grenzen. Er kannte das inzwischen schon, bei jeder der unzähligen Praktikumsstellen, die Yvonne in den letzten Jahren hatte, wurde sie nur so mit Lob überschüttet. Gebracht hatte das bislang freilich wenig, außer vielleicht einer neuen Praktikumsstelle. Jeder, der Personal brauchte, sich aber nicht leisten konnte(oder konnte, aber nicht wollte), stellte Praktikanten ein. Die waren gut motiviert, lernfähig, flexibel, aufgeschlossen, teamfähig, selbstbewussst oder unterwürfig, je nachdem was grade gefordert wurde, waren zweisprachig aufgewachsen und beherrschten noch drei zusätzliche Sprachen verhandlungssicher. Dies alles stellten sie für wenig oder gar kein Geld willfährig zur Verfügung. Alles was sie brauchten war die Praxiserfahrung, ab und zu ein gutes Wort und vor allem eine Aussicht. Eine Aussicht auf eine Festanstellung, auf einen Zeitvertrag, auf ein besseres Leben. Es war egal, dass dies so gut wie nie eintraf. Die Zeiten waren schlecht, da konnte man wirklich nichts verlangen. Aber die Aussicht, die musste stimmen, sonst schuftete es sich so schlecht.

Jonas hing diesem Gedanken eine Weile nach, während Yvonne erzählte und erzählte. Er hörte gar nicht richtig zu, es ging eh um die ewig selben Themen: Die Arbeit, die Karriere, der erstaunliche Chef (potentielle Europaparlamentarier waren aber auch zu sexy).

Jonas war der Meinung, dass jetzt auch dem zwischenmenschlichen Aspekt Genüge getan werden musste. Er unterbrach seine Freundin.

"Ich vermisse Dich."

Sehr langes Schweigen.

„Jooonas!“

Oh nein, nicht schon wieder! dachte sich Jonas. Das alte, leidige Thema, der wunde Punkt, die Urangst eines jeden Mitzwanzigers in der heutigen Zeit: Bindungsphobie.

„Du weißt doch, dass ich mit so was echt nicht umgehen kann, Jonas.“

„Was hab ich denn gemacht?“ fragte Jonas, der den Grund sehr gut kannte.

„Du sagst, dass du mich vermisst, dass heißt, dass du mich brauchst. Und dass du mich brauchst, belastet mich mit einer enormen Verantwortung und noch mehr Verantwortung kann ich im Moment echt nicht haben.“

Jonas musste ein wenig schmunzeln, da ihm die enorme Verantwortung, die im Kopieren von Tagesordnungen und dem Verteilen von Flyern lag, nicht ganz einleuchten wollte. Dennoch versuchte er Yvonne zu besänftigen.

„Ist ja gut, ich habs nicht so gemeint.“

„Du fängst immer wieder dieses Thema an, dabei kennst du meine Meinung dazu.“

„Schon gut, es kommt nicht wieder vor.“

„Wir sind alle Individuen.“

„Ja, ja.“

„Ich und auch du!“

„Stimmt.“

„Du musst doch auch an deine Karrieredenken.“

„Karriere?“ Da musste Jonas doch lachen. „Ich sitze in einem feuchten Kellerloch, habe einen Computer vor mir, über den sich ein Museum freuen würde und anscheinend bin ich der Einzige, der weiß, dass ich überhaupt in diesem Betrieb angestellt bin.“

„Aller Anfang ist schwer.“ drang es mütterlich durch den Hörer.

„Von Anfang kann gar keine Rede sein. Ich glaube eher, das ist das Ende.“

„Meine ehemalige Chefin hat genauso angefangen wie wir. Am Anfang macht man halt die Handlangersachen.“

„Das war damals, in der guten alten Zeit. Da gab es noch Festanstellungen, Aufstiegsmöglichkeiten, ein angemessenes Gehalt…“

„Wichtig ist, das man selbst die Handlangerarbeiten gewissenhaft und zuverlässig ausführt. Im Moment läuft es halt ein bisschen zäh, aber wenn die Krise erstmal vorbei ist…“

„ Das hör ich jetzt seit dem ich mir überhaupt Gedanken über einen Job mache. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern überhaupt mal einen Boom erlebt zu haben. Das ist keine Krise, das ist der steile Weg bergab…“

„Jetzt hör auf damit, mach mal keine Panik. Du hast doch VWL studiert, du musst doch wissen das das wirtschaftlich immer auf und ab geht.“

„Von wegen auf und ab. Alle reden immer vom Wachstum, was soll denn da noch wachsen? Wir sind doch alle so was von satt.“

„Jonas, bitte!“

„Doch, natürlich. Wir haben doch alles. Wieviele Handies hast du zum Beispiel?“

„Zwei.“

„Zwei? Seit wann hast du zwei Handies?“

„Mein privates und mein dienstliches. Volker hats mir gegeben.“

„Öhm, ja…“ Jonas hatte kurz den Faden verloren, fand aber wieder rechtzeitig in seine Kritik zur Lage der Nation zurück bevor Yvonne ihm das Wort abschneiden konnte.

„Und wie viel Autos hast du“

„Das weißt Du Jonas.“

„Du verdienst so gut wie keine Kohle und hast ein Auto.“

„Das bezahlen meine Eltern und das weißt du auch. Und überhaupt, du verdienst weitaus mehr Geld als ich, arbeitest bei einem Autokonzern und hast kein Auto, wie siehts damit aus?“

„Ich bekomme vor meiner Wohnung keinen Parkplatz.“

„Ja, is klar.“

„Nein, ist einfach so. Die wollen 200 € für einen Parkplatz, im Monat.“

„Da hast du ja jetzt was wofür es sich lohnt zu arbeiten.“

„Ja, da brauch ich nur noch ein Auto.“

„Nochmal, du arbeitest bei einem Autokonzern“

„Nee, da nimm ich lieber weiter den Bus.“

Ein tiefer Seufzer kam aus dem Hörer. Yvonne war jetzt am Rande ihrer Geduld. Die Konversation neigte sich dem Ende zu.

„Ja ich weiß, ich bin furchtbar.“

„Manchmal schon“

Abermaliger Seufzer.

„Ich muß jetzt schlussmachen, ich muß zum Termin.“

„Ja, schon o.k. Ich…“ Jonas hielt inne, den Satz mit dem hässlichen Wort Vemissen konnte er nicht bringen.

„Ich bin eigentlich ganz froh, dass du nicht hier bist.“

„Was soll das denn jetzt?“

„Tschuldigung, ich wollte lediglich ein Verantwortungsdruck von dir nehmen.“

„Oh Mann…“ Klick. Yvonne hatte aufgelegt. Jonas überkam ein schlechtes Gewissen. Das war wohl etwas

zu viel des Guten.

3 Jahre war er jetzt mit Yvonne zusammen. Wenn man das so nennen konnte. Die Diskussion um Bindung oder Nichtbindung waren so alt wie die Beziehung an sich. Aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los das dies jetzt wirklich die letzten Züge waren.

to be continued.......

Monday, May 08, 2006

Die Träume des Jonas K.

Feierabend

Noch 54 Minuten. Das zieht sich. Die letzte Stunde ist immer die längste. Selbst wenn der Tag zuvor im Fluge vergangen war, was in unserem Falle zugegebenermassen so gut wie nie passierte, schritt die letzte Runde voran wie ein adipöser Fusskranker. Aber man war ja auch schließlich nicht zum Vergnügen hier.
Jonas Klein sass in seinem kleinen, bescheidenen Büro und leistete seinen kleinen, bescheidenen Beitrag dafür, dass der große Autokonzern „BIG ONE Cars“ (kurz BOC), welcher so gütig war ihn zu beschäftigen, wieder dahin kam, wo er hingehörte, nämlich an die Spitze der gesamten Branche. Bei seiner Einstellung hatte man ihm gepredigt, dass Demut eine unabdingbare sekundäre Tugend sei, um es in diesem Unternehmen zu etwas zu bringen und diese Eigenschaft wurde bereits bei Jonas Büro voll gefordert. Es hatte keine Fenster, was nicht verwunderte, wenn man bedachte, daß es sich im Keller des achtstöckigen Bürogebäudes befand.
Jonas wußte nicht ob es so von Firmenvorstand beabsichtigt worden war, jedenfalls waren die Stockwerke des Gebäudes streng hierarchisch angeordnet. Im obersten Stockwerk saß der nationale Vorstand, im siebten die Direktoren der verschiedenen Einkaufsdistrikte. Wer hier saß, war Mitglied des Olymps, unnahbar, unantastbar, unfassbar, zumindest für Jonas. Bei Zigarettenpausen auf dem Werksgekände konnte man gelegentlich einen dieser modernen Sagengestalten erblicken: Immer schnellen Fusses unterwegs, zu dem es garantiert einen entsprechenden Leisten in der Werkstatt eines italienischen Schuhmachers gab, welcher pro Monat nur eine handvoll Schuhe zusammenklöppelte, welche den Preis eines Kleinwagens mit Klimanlage hatten, und für dessen Material (wohlmöglich Leder hergestellt aus osttibetanischen Yakhoden) der gute Meister seinen Erstgeborenen einem ansässigen Fussballzweitligisten in Zahlung gegeben hatte. Diese Menschen (niemand konnte mit 100 prozentiger Sicherheit sagen, ob sie es wirklich waren) marschierten zielgerichtet ihrem nächsten Ziel entgegen, getrieben von Kräften, die Jonas nicht begreifen konnte und wohl auch nie begreifen würde. Sie wurden getrieben, wirkten jedoch nie gehetzt. Wie auch, es gab niemanden der ihnen ernsthaft in den Hintern treten konnte, außer vielleicht wenn sich der gesamte Zorn der Aktionäre bündelte und ein Blutopfer forderte, auf das der Gott des schnöden Mammons zufriedengestellt werde und die Anteile wieder in die Höhe schnellten. Und selbst in dem Falle, dass einer dieser Erscheinungen wirklich vor dem Rat der Anteilshaber in Ungnade gefallen war, fiel die Bestrafung in den Augen des arglosen Unbeteiligten doch recht gnädig aus. Gewöhnlich wurde eine Abfindung gezahlt, die monetär ausgedrückt höher war als alles, was die ersten drei Stockwerke (und den Keller konnte man getrost noch dazu zählen) in ihrem ganzen Leben verdienen würden. Bevor man nun mit dem ganzen Geld und dem ungewohnten Zuwachs an Freizeit in eine gepflegte Depression abgleiten konnte, meldete sich meistens noch rechtzeitig ein anderer Megakonzern, die wiederum einen neuen Halbgott suchten, da der alte ebenfalls irgendwas in den Sand gesetzt hatte und so dumm war (dieser Begriff ist eigentlich im Zusammenhang mit beschriebenen Personen unangebracht) die Schuld nicht rechtzeitig einem seiner Untergebenen zugeschoben zu haben.
Das war irgendwie vergleichbar mit einem Kind, das man beim Klauen in der Süsswarenabteilung erwischt hatte. Das Balk hatte sich die Taschen so vollgestopft mit Schokoladentafeln( die 500-Gramm Tafeln), Pralinenschachteln (die extrateuren aus handverlesenen Kakaobohnen) und Weingummies (aus garantiert BSE-freier Gelatine), das es auf seinem Weg gen Ausgang laufend Ladung verlor und eine unübersehbare Spur feinster Leckereien hinter sich her zog. Soviel Dreistheit darf natürlich nicht ungesühnt bleiben und so wird nach einer eingehenden Belehrung dem Kinde die gesamte Auslage übergeben und es zum nächsten Süsswarengeschäft geschickt. Im Falle dieses Kindes ist dies möglich, ja sogar vollkommen klar, denn dieses ist etwas- Besonderes.
Das war Jonas, der wie bereits erwähnt im Keller saß, nicht. Sein Traum war es irgendwann mal bei den Einkäufern zu sitzen, die hatten wenigstens Fenster. Sein Büro (die Bezeichnung war etwas vermessen) war cirka 14 Quadratmeter groß und wurde durch durchdringendes Neonlicht erhellt. Die Wände waren weiß gestrichen, an diesen Wänden standen drei Aktenschränke, olivgrün und wahrscheinlich seit Jahren unberührt. An der Wand hing ein Kalender, den Bremsenzulieferer gespendet hatte, datiert auf das Jahr 1998 und eine Europakarte, auf der noch die DDR zu sehen war. Es gab nur einen provisorischen Schreibtisch auf dem ein gnadenlos veralteter PC stand, welcher so langsam und laut war, daß Jonas vermutete man hätte statt eines Prozessors eine Ratte im Laufrad in diesen installiert. Er hatte sich bislang jedoch nicht getraut seine Vermutung zu überprüfen. Als Sitzgelegenheit diente ihm ein Stuhl, den man vermutlich aus der Kantine entwendet hatte.
Irgendwie schien alles, was sich in diesem Raum befand, in Vergessenheit geraten zu sein.
Noch 51 Minuten. Die Zeit stand anscheinend still. Wenn man nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, muss man sich schon was einfallen lassen. Jonas wählte die Klo-Variante. Das brachte Zeit und man kam in Bewegung, was bei der Kantinensitzgelegenheit auch bitter nötig war. Die nächste Toilette befand sich zwar im Keller war aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgeschlossen seitdem Jonas in sein Büro unter der Erde eingezogen war. Ein zuständiger Commodity Manager (früher manchen auch als Hausmeister bekannt) war nicht aufzufinden, das gesamte Commodity Management war umstrukturiert worden, wobei anscheinend etwas mit vereinzelten Schlüsseln schiefgegangen war. Mehr konnte Jonas bei seinen Spaziergängen durch das Verlies auch nicht in Erfahrung bringen, das Commodity Management arbeite aber fieberhaft an einer Lösung des Problems.
Jonas kam dieses Toilet-Issue ganz recht. Man war gezwungen im Erdgeschoss pinkeln zu gehen, das war ein weiter Weg. Jonas ging langsam, betont langsam, schritt sozusagen, fast wie ein Priester vor der Erteilung eines Sakraments. Er öffnete die blaue Stahltür die ins Treppenhaus führte und verlies so die Welt der Neonröhren in Richtung Tageslicht. Am Pissoir angekommen öffnete er langsam die Hose und drückte sich mühevoll ein paar Tropfen heraus, wenn man etwa achtmal am Tag aufs Klo ging und nicht an akuter Diarhö litt, war es schwierig seinem Körper noch irgendwelche Körperflüssigkeiten zu entlocken. Trotzdem mußte man auch hier ordentlich abschütteln. Einmal, zweimal, dreimal, ja auch viermal und weil die Firma Ihre Mitarbeiter zur äußerster Gründlichkeit in allen Bereichen des Arbeitslebens aufforderte auch guten Gewissens ein fünftes Mal. Hose wieder zu, vorsichtig. Dann gemächlich zum Waschbecken, ordentlich Seife auf die Hände (Jonas hatte vor seinem Eintritt in die Firma bei solchen Gelegenheiten nie Seife benutzt) und dann so lange waschen bis die Finger schrumpelig wurden. Um nochmal schätzungsweise 2 Minuten herauszuschinden benutzte er statt der Papiertücher den Heisslufttrockner (keine Ahnung wie der Terminus Technikus für dieses Ding war).
In der Eingangshalle warf er noch einen langen, eingehenden Blick auf die neuesten Mitteilungen des Unternehmens. Sein Blick schwiff über den Bericht über die Weihnachtsfeier der Altgedienten und die Ausschreibung des Betriebstennisturniers um schließlich bei den Sportangeboten des Betriebes zu verweilen. Fussball am Mittwoch abend, das war morgen, in der Betriebssporthalle um acht. Könnte man ja mal machen. Jonas hatte früher Fussball gespielt, nicht besonders gut, aber vielleicht spielte die Zeit ja für ihn. Vermutlich wäre er der Jüngste und vielleicht auch der Schlankeste. Bewegung hatte er bitter nötig, er war nie besonders athletisch gebaut gewesen, aber zu seiner schmalen Brust hatte sich jetzt noch ein unübersehbares Bäuchlein gesellt. Im Profil sah er aus wie ein kleines b. Sportbekleidung und Turnschuhe (weiße Sohle) waren mitzubringen, sowie natürlich gute Laune (natürlich).
Jonas schlenderte zurück in seine Kammer. Simultan mit Betreten des Zimmers fiel sein Blick auf das Display seines Telefons. 15.43. Ja! Reife Leistung. Jonas rechnete: Wenn er fünf Minuten früher ginge (was in diesem Unternehmen weitgehend als akzeptabel galt) hätte er jetzt noch 12 Minuten. Das war nur noch halb so wild. Jonas begann langsam und bedächtig seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er ordnete Stifte, Lineal, Locher und Papier geometrisch an, richtete sie so aus, dass sich ein Muster auf dem Tisch bildete. Er korrigierte einzelne Bestandteile dieses Musters, bis sie seiner Meinung nach perfekt angeordnet waren.
Ein Blick auf das Display: 15.47. Weniger als 10 Minuten, bald war es geschafft.
Er nahm den Papierkorb, in dem zwei zusammengeknüllte Seiten Papier lagen und ging zum Shredder, der ein paar Zimmer weiter stand. Die beiden Fehldrucke hätten einen Werksspion nicht wirklich weitergeholfen, trotzdem, wenn er nichts sinnvolles zu tun hätte, könnte er wenigstens das gründlich tun. Und sicher war und sit und blieb schließlich sicher. Er entknäulte die beiden Papiere, um den Shredder nicht zu verstopfen und legte sie fast zärtlich in den Einzug. Nachdem er gewissenhaft überprüft hatte, ob die Maschine ihren Dienst auch ordnungsgemäß verrichtet hatte, kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück.
Display: 15.53. Fast geschaft, jetzt mußte er sich beeilen, um das Büro noch planmäßig verlassen zu können.
Er fuhr den Computer herunter und zog gleichzeitig seine Jacke an um Zeit zu sparen. Er wartete bis der Rechner sich von ihm höflich verabschiedete.
Display: 15.54. Eine Minute mehr oder weniger, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an, nichts wie raus hier. Er packte seinen Rucksack und schmiss die Tür hinter sich zu. Abschliessen konnte er nicht, besagtes Problem im Facillity-Management hatte zur Folge, das auch der Schlüssel zu diesem Raum fehlte. Ungewohnt schnellen Schrittes verlies Jonas das Verlies, betrat den Hof, fühlte die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut, atmete die frische Luft und war für ein paar Sekunden glücklich. Dieser Zustand änderte sich aber spätestens als er am Werksausgang dem Mann vom Sicherheitsdienst begegnete. Man kannte sich bereits, der Wächter hatte es sich bis jetzt noch nie nehmen lassen, Jonas ausgiebig zu untersuchen. So auch diesmal. Beim Versuch das Tor zu passieren prallte Jonas gegen die Schulter des Schergen.
„Aufmachen, bitte!“
Jonas seufzte. Was konnte sich schon in diesem beschissenen Rucksack verbergen? Wichtige Informationen über strenggeheime Technologien?. Die Firma war ja noch nicht mal im Stande ein Auto mit akzeptablem Spritverbrauch zu bauen, bzw. ein ordentliches Design hinzukriegen. Was sollte er hier schon raustragen? Um herauszufinden was für einen Schund hier fabriziert wurde konnten die gegnerischen Unternehmen einfach geduldig warten bis die nächste Katastrophe auf den Markt geworfen wurde. Um sich dann halbtot zu lachen.
Nutzte nichts, der Mann für die Sicherheit filzte den Rucksack nach besten Gewissen, sogar die Seitentaschen.
„Alles in Ordnung.“ Wer hätte das gedacht.
Jonas setzte sich in Bewegung. Wenn er jetzt noch die Bahn kriegen wollte, mußte er einen Schritt zulegen. Wenn dieses Arschloch von der Sicherheit nicht...
Tatsächlich sah er die Bahn schon auf die Haltestelle zusteuern und diese war noch cirka 200 Meter entfernt. Er legte so etwas wie einen Sprint ein, was bedeutet, dass er pumpte und kämpfte wie im 100-Meter-Finale der olympischen Spiele. Von der Stelle kam er jedoch kaum. Glücklicherweise war jemand, der ihn vom Weiten keuschend und japsend nahen sah, so gütig , die Tür zu blockieren. Das freute wahrscheinlich nicht den Bahnfahrer, umso mehr jedoch Jonas, der dem edlen Retter ein ersticktes „Dange“ zukeuschte.
Jonas setzte sich auf den einzigen freien Doppelplatz. Der Tag wäre also auch vorbei. Gott sei Dank.

Jetzt gehts los

Also gut unsere kleine Geschichte startet also heute. Man könnte meinen das die Geschichte in Deutschland stattfindet, Orte die angegeben werden sind aber eher zufällig und könnten gegen beliebige Orte der westlichen Welt ausgetauscht werden.
Den Vorwurf das sich die Geschichte doch arg an den momentanen Zeitgeist ranschmeisst kann man durchaus gelten lassen. Allerdings ist das Problem der prekären Generation meiner meinung nach kein Modeerscheinung sondern das Produkt einer jahrzehntelangen Entwicklung innerhalb der westlichen Welt.
Aber genug zum Vorgeplänkel. Kommen wir nun zu Jonas K. und seiner Geschichte....

Saturday, May 06, 2006

Am Montag gehts los

hoffentlich.....